07.06.2025

Taiwan Today

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Das ausgediente Schulwesen

01.01.1995
Die Bildung hat jahrhundertelang eine fast heilige Stellung in der chinesischen Kultur eingenommen, und die Eltern auf Taiwan führen diese Tradition fort. Der Druck, der auf ihren Kindern lastet, hat viele positive Ergebnisse bewirkt. Beispielsweise stehen die hiesigen Schüler im beneidenswerten Ruf, ständig unter den Besten bei internationalen Examen zu rangieren. Aber es gibt auch Schattenseiten. Aufgrund des Konkurrenzkampfes um die Aufnahme in eine Oberschule wird der Unterricht oftmals auf Vorlesungen, mechanisches Auswendiglernen und Schnelligkeitsdrill im Aufgabenlösen beschränkt. Für Fragen und Diskussionen bleibt kaum Gelegenheit. Eltern, Pädagogen und Regierungsverantwortliche arbeiten nun an einer Reform des Schulwesens von der ersten bis zur neunten Klasse, wobei sie allerdings einen Weg finden müssen, das Bildungswesen zu modernisieren, ohne die Vorteile der traditionellen Erziehung aufzugeben.

Eine Gruppe von Erst- und Zweitkläßlern geht an einem Werktagmorgen in die Schule. In ihren einheitlichen weißen Blusen über blauen Shorts oder Röcken trotten sie schweigend und mit gesenkten Köpfen dahin. Jedes Kind trägt einen schweren Ranzen. Die Kamera richtet sich auf einen Jungen, der vor dem Schuleingang herumtrödelt und, neben dem Motorroller seiner Mutter stehend, an seiner Sojabohnenmilch nippt. Auf der Schultreppe wird ein kleines Mädchen auf dem Weg zum Unterricht angehalten, und eine Erwachsenenstimme fragt: "Gehst du gerne zur Schule?" Es schüttelt den Kopf und sagt: "Nein."

Szenenwechsel. Ein Lehrer steht vor einer Klasse, spricht in ein Mikrofon und schreibt Zahlen an die Tafel. Die Mittelstufenschüler sitzen in geraden Reihen, und auf den Tischen liegen nur ihre Schulbücher. Lediglich die Stimme des Lehrers ist zu hören. In einer anderen Szene aus dem Mathematikunterricht stellt der Lehrer Rechenaufgaben, und die Schüler rufen im Chor die richtigen Lösungen, immer und immer wieder. Ihre Stimmen verschmelzen miteinander wie bei einem methodischen und leidenschaftslosen buddhistischen Gesang.

Diese Szenen stammen aus dem 1992 gedrehten Dokumentarfilm "Glückliche Kindheit" von Huang Wu-hsiung(黃武雄), einem Mathematikprofessor an der Nationalen Taiwan-Universität. Der Film, welcher Bilder aus Klassenräumen auf ganz Taiwan zeigt und Huang's Kommentar über die Notwendigkeit einer Bildungsreform vorstellt, wurde seit seiner Veröffentlichung von Tausenden von Eltern und Lehrern gesehen. Huang will aufzeigen, daß viele Kinder Taiwans unglücklich sind, weil das Schulsystem zuviel Leistungsdruck auf sie ausübt und ihnen zuwenig Freiraum für die Entwicklung individueller Fähigkeiten, Ideen und Interessen gibt. "Unser Bildungswesen bringt gute ausführende Kräfte hervor - Leute, die darauf gedrillt sind, Sachen zu erledigen", sagt Huang. "Aber wir bringen keine Pioniergeister hervor - Leute, die neue Dinge einführen können. Warum? Weil die Kreativität unserer Schüler durch die an den Schulen verlangte Uniformität zerquetscht worden ist!"

Huang steht mit dieser Kritik nicht alleine da. Er hat die seit langem bestehende Unzufriedenheit mit dem Bildungssystem artikuliert und die Unterstützung von Tausenden von Eltern und Lehrern gewonnen. Nachdem er 1992 ein Urlaubsjahr eingelegt hatte, um den Dokumentarfilm zu erstellen, reiste Huang im darauffolgenden Jahr rund um die Insel, um den Film vorzuführen und über die Notwendigkeit einer Bildungsreform zu sprechen. Bis Anfang 1994 war die Bewegung in Gang gekommen, und am 10. April bildeten Huang und seine Anhänger die Bildungsreformliga (Educational Reform League) und organisierten Taiwans erste große Demonstration für die Reform des Bildungswesens. Die Protestveranstaltung zog 20 000 Menschen an, die sich vor der Sun-Yat-sen-Gedächtnishalle in Taipei versammelten, um einen Tag lang Reden zu hören sowie Videos und Sketche über die Probleme mit dem derzeitigen Schulsystem zu sehen. Dutzende von Schulen und eine Reihe von Bildungsstiftungen waren unter den Teilnehmern.

Zum Ende der Veranstaltung hin organisierten die Veranstalter einen sogenannten "Marsch zur höheren Bildung". Um die Schwierigkeiten zu verdeutlichen, auf die Schüler bei der Aufnahmeprozedur für die Ober- oder Hochschule stoßen, mußten die Demonstranten viele Hindernisse überwinden, welche die Aufnahmeprüfung und die an den Schulen üblichen, erniedrigenden Bestrafungsmethoden symbolisierten. Der Marsch endete vor dem Legislativ-Yüan, wo die Liga ein Manifest zur Bildungsreform an die Parlamentarier überreichte. Sie stellte vier Forderungen: Modernisierung des Bildungswesens; Reduzierung der Schul- und Klassengrößen; Linderung des Konkurrenzkampfes um Ober- und Hochschulaufnahme durch die Einrichtung von mehr weiterführenden Lehreinrichtungen; Aufstellung eines umfassenden Bildungsgesetzes.

Die Veranstaltung war für einige Tage das Hauptthema in den hiesigen Medien und gewann dadurch mehr öffentliche Unterstützung. Seither ist die Bildungsreform eines der heißesten Nachrichtenthemen geblieben. Die Verfechter des Status quo weisen auf die Vorteile des traditionellen Bildungswesens hin: die Prüfungen seien fair, Taiwans Schüler würden ständig unter den weltbesten rangieren, und das derzeitige Schulwesen würde Disziplin und Moral fördern. Aber eine wachsende Zahl von Eltern und Lehrern sagt, daß die Jugendlichen überarbeitet und unglücklich seien und nach einem System unterrichtet würden, das Kreativität und individuelles Denken im Keim erstickt. Auch wenn sich die Geister darüber scheiden, wie weit das System reformiert werden sollte, so unterstützen die meisten Eltern einen gewissen Grad der Veränderung.

Chen Jui-feng(陳瑞峯),Vater eines Grund- und eines Mittelschülers, bringt die von vielen Eltern empfundene Frustration zum Ausdruck: "Im Klassenzimmer spricht normalerweise nur der Lehrer, und die Schüler hören zu. Es gibt kaum einmal eine Gruppendiskussion oder einen aktiven Austausch zwischen Lehrer und Schülern. Ich glaube nicht, daß die Schüler Lernfähigkeiten entwickeln können, wenn sie nicht aktiv am Unterricht beteiligt sind. Der derzeitige Unterrichtsstil stopft sie nur voll und nimmt ihnen das Interesse am Lernen."

Eltern mit einer solchen Einstellung versuchten in der Vergangenheit, ihre Kinder ganz aus dem hiesigen Schulsystem herauszunehmen, indem sie sie im Ausland zur Schule schickten. Genaue Statistiken liegen nicht vor, aber man schätzt, daß 1984 rund 2300 Kinder im Alter zwischen sechs und 15 Jahren das Land verließen, um im Ausland, d.h. hauptsächlich in den Vereinigten Staaten und in Kanada, die Schule zu besuchen. 1991 war diese Zahl auf zirka 20 000 angestiegen. "Der Hauptgrund dafür, daß Eltern ihre Kinder ins Ausland schicken, liegt in dem Druck, die Aufnahmeprüfung zur Oberschule bestehen zu müssen", sagt Lin Chia-hsing(林家興), Autor des Buches "Fallschirmkinder". "Um gerecht zu sein, müssen sich alle Universitäten und Colleges bei der Auswahlentscheidung auf die allgemeine Aufnahmeprüfung verlassen. Aber nur 20 bis 50 Prozent werden zugelassen, was bedeutet, daß 50 bis 80 Prozent eine Hochschulausbildung verwehrt bleibt. Wie sollten sich da die steuerzahlenden Eltern nicht beschweren?"

Selbst unter den Eltern, die ihre Kinder nicht ins Ausland geschickt haben, sucht eine steigende Anzahl im eigenen Land nach Alternativen zum regulären Schulwesen. Jene, deren Kinder einen ausländischen Paß besitzen, haben sie auf Taiwans internationale Schulen geschickt. An den amerikanischen Schulen in Taipei und Kaohsiung beispielsweise besteht ein großer Teil der Schülerschaft aus Kindern, deren Eltern Staatsbürger der Republik China sind. Den Eltern gefallen die kleinen Klassen, liberalen Unterrichtsmethoden und hervorragenden Ausstattungen an diesen Lehranstalten. Für Kinder ohne ausländische Staatsbürgerschaft sind in den letzten Jahren eine Reihe von alternativen Grundschulen eröffnet worden. An der Wald-Schule beispielsweise, einem Internat für Grundschüler, zahlen Eltern 9200 US$ pro Jahr, damit ihre Kinder in den Genuß der kleinen Klassen und des interaktiven Unterrichtsstils kommen. Die Eltern sind bereit, diese hohen Kosten für ein System zu zahlen, welches selbständiges Denken fördert und ihre Kinder vor dem Konkurrenzkampf an öffentlichen Schulen bewahrt.

Die Reformer sagen, daß das Hauptproblem des hiesigen Schulsystems in der konkurrenzträchtigen Oberschulaufnahmeprüfung liege. Die allgemeine Schulpflicht reicht von der ersten bis zur neunten Klasse. Nach der Mittelschule, welche die siebte, achte und neunte Klasse umfaßt, können die Schüler abgehen oder versuchen, Aufnahme in einer Oberschule, Berufsfachschule oder einem fünf Jahre dauernden Juniorcollege zu finden. Am häufigsten versuchen die Schüler, sich für eine öffentliche Oberschule zu qualifizieren, deren Besuch als der sicherste Weg zu einem guten College oder einer Universität gilt. Aber weil die Anzahl der Plätze beschränkt ist, werden nur die Schüler zugelassen, deren Testergebnisse unter den besten 30 Prozent sind. Jene, die sich nicht qualifizieren konnten, dürfen den Test so oft sie wollen wiederholen, aber er findet nur einmal pro Jahr statt. Häufiger entscheiden die Schüler sich für den Versuch, die Aufnahme in eine private Oberschule, ein Juniorcollege oder eine Berufsfachschule zu schaffen.

Der Druck, bei der Oberschulaufnahmeprüfung gut abzuschneiden, macht sich schon lange bevor die Schüler auf die Mittelschule gehen bemerkbar. Einige Eltern schicken ihre Kinder bereits zu Extrastunden am Abend oder am Wochenende, wenn sie erst in die erste oder zweite Klasse der Grundschule gehen, damit sie Hilfe in Mathematik, Englisch oder anderen Prüfungsfächern erhalten. Und wenn sie auf die Mittelschule kommen, wird der Druck immens. "Zwischen Grund- und Mittelschule gibt es einen großen Unterschied", sagt Wu Ming-ching(吳明清), Professor am Graduierteninstitut für Grundschulerziehung am Taipeier Lehrer-College. "Grundschulen können einen ausgewogenen Lehrplan beibehalten. Doch unter dem Druck der Aufnahmeprüfung richtet sich die Zielsetzung an den Mittelschulen auf das Bestehen der wichtigen Prüfung. Alles dreht sich nur darum, diese Jugendlichen auf die Oberschule zu schicken." Unter diesem Druck, hebt er hervor, würden die Lehrer zunehmend Tests schreiben lassen und manchmal den Kunst- oder Sportunterricht ausfallen lassen, um zusätzliche Stunden zur Testvorbereitung halten zu können.

Ein häßlicher Nebeneffekt des Konkurrenzkampfes ist, daß viele Eltern schummeln, damit sie ihre Kinder auf eine der wenigen städtischen Spitzen-Mittelschulen senden können, obwohl die Schüler eigentlich entsprechend ihrer Wohnadresse eingeschult werden sollen. Um die Bestimmungen zu umgehen, lassen Eltern ihre Kinder über Verwandte oder Bekannte registrieren, die im passenden Stadtteil wohnen. Die Tunhua-Mittelschule in Taipei ist eine solche begehrte Schule. Um die Anzahl der Schüler zu kontrollieren, mußte die Schule neue Anmeldebestimmungen einführen, wie die Bevorzugung von Familien mit Wohneigentum vor solchen, die zur Miete wohnen.

Eine weitere negative Auswirkung des Konkurrenzkampfes ist die Klasseneinteilung. Wenn die Schüler in die siebte Klasse kommen, werden sie geprüft. Entsprechend des Testergebnisses sollen die Schüler gleichmäßig auf die Klassen verteilt werden, und zwar so, daß jede Klasse Schüler aller Leistungsstufen von der Note A bis D hat. Aber obwohl es gegen die offiziellen Vorschriften verstößt, teilen einige Schulen die Schüler in "überdurchschnittliche", "durchschnittliche" und "unterdurchschnittliche" Klassen ein. Das gibt der Schule die Möglichkeit, sich auf die Spitzenschüler zu konzentrieren, und kann ihre Chancen verbessern, sich durch die hohe Anzahl von Schülern, die sich für die Oberschule qualifizieren, einen guten Ruf zu schaffen.

Währenddessen werden die schlechten Schüler in sogenannten "Schäferklassen" zusammengefaßt, die ihren Namen tragen, weil man die Fähigkeiten dieser Schüler für gerade groß genug hält, um Schafe zu hüten. Meistens werden diese Klassen von Lehrern unterrichtet, die verärgert darüber sind, für solch ein niedriges Niveau eingeteilt zu werden. Es sei ein unbarmherziges System, sagt der Biologielehrer Yeh Hsiu-pen(葉秀盆), der einmal an einer Schule mit solchen Klassen unterrichtet hat. "Schüler, die nicht für Prüfungen geschaffen sind, werden als 'schlecht' gebrandmarkt. Die Lehrer setzen keine Hoffnungen in sie, und sie geben sich selbst auch irgendwie auf."

Huang Wu-hsiung sieht in den beschränkten Oberschulplätzen einen Verstoß gegen die grundlegenden Rechte. "Es ist nicht falsch, eine Oberschule besuchen zu wollen. Aber keine Möglichkeit zu haben oder nur hinzugehen um des Hingehens willen, das ist beides falsch", sagt er. "Obwohl fast alle Mittelschulabsolventen an der Aufnahmeprüfung teilnehmen, können nur zirka dreißig Prozent zur Oberschule gehen. Können Sie sich vorstellen, wie groß die Konkurrenz ist? Kein Wunder, daß die Eltern darum kämpfen, ihre Kinder in die besten Mittelschulen zu bringen. Kein Wunder, daß Schulen ihre Schüler aussieben."

Die Lehrer sagen, daß das Prüfungssystem auch ihnen viele Zwänge beim Unterrichten auferlege. Sie haben keine andere Wahl, als einen vorlesungsähnlichen Unterrichtsstil anzunehmen, weil der standardisierte Lehrplan mit in den Prüfungen vorkommender Materie vollgestopft ist. "Weil wir im zeitlichen Rahmen bleiben und soviel zusätzlichen Stoff wie möglich einbeziehen müssen, bleibt keine Zeit, den Schülern zu erlauben, nachzudenken und die richtigen Antworten selbst herauszufinden", sagt Chen Shu-fen(陳淑芬), Mathematiklehrerin an einer Mittelschule. "Für gewöhnlich erklären wir die Grundlagen, listen eine Reihe von Formeln und Lösungswegen auf und lassen dann die Schüler eine Menge Aufgaben zu Hause rechnen."

Der Druck, der auf den Lehrern lastet, wird durch die große Schülerzahl in den Klassen verstärkt. Statistiken des Erziehungsministeriums (Ministry of Education) für 1993 zeigen, daß rund ein Drittel der Grund- und Mittelschulklassen mehr als 45 Schüler hatten und einige Klassen die maximal zulässige Schülerzahl von 52 für Grundschulen und 48 für Mittelschulen erreichten. Weiterhin liegt die genehmigte Klassenzahl einer Schule bei 49, aber zwölf Prozent der Grundschulen und 27 Prozent der Mittelschulen übersteigen dieses Limit.

Die Hsiulang-Grundschule im Taipeier Vorort Yungho hat 8700 Schüler, und die durchschnittliche Klassengröße liegt bei 45 Schülern. Das Problem der Überfüllung konnte durch die Erweiterung um neue Stockwerke gelindert werden - zuvor benutzten die Schüler die Klassenräume in Vormittags- und Nachmittagsschichten -, doch die große Schülerzahl verursacht immer noch Transportprobleme. Es gibt täglich Verkehrsstaus vor Unterrichtsbeginn oder nach Unterrichtsende, wenn die Schüler in Horden aus der Schule kommen, um ihre im Auto oder auf dem Motorroller wartenden Eltern zu treffen. "Am schlimmsten ist, daß die Überfüllung einen negativen Effekt auf die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern hat", sagt Schuldirektor Chan Cheng-hsin(詹正信). "In einer Klasse mit über vierzig Schülern kann ein Lehrer sich nicht um persönliche Bedürfnisse kümmern. Die Klassenzimmerverwaltung besteht darin, Ordnung zu wahren.

Große Klasse und ein vollgestopfter Lehrplan haben die Tradition der strengen Disziplin in der Schule fortbestehen lassen - ein weiterer Kritikpunkt der Reformer. "Vom ersten Schultag an werden unsere Kinder angewiesen, in vor­bestimmten Reihen zu sitzen und Ordnung und Autorität vor allem anderen zu respektieren", sagt Huang Wu-hsiung. "Wir haben all diese Rituale an den Schulen, wie die Zeremonie des Flaggehissens, das Rufen von Parolen sowie die Überprufung von Sauberkeit und Kleidung. Die Schüler sind zu eingeschränkt."

Auch die Schüler beschweren sich über rigide Regeln und strenge Strafen. "Es ist, als ob wir beim Militär wären", sagt der Neuntkläßler Ku Fu-chi(辜富琪). "Konformität geht über alles. Wenn du ein bißehen was Ausgefallenes mit deinen Haaren machst oder Socken trägst, die nicht weiß sind, kriegst du Ärger. Und wir müssen die Oberen respektieren - wenn du einen Lehrer nicht grüßt, bringt dir das auch eine Strafe ein."

Die Kleidervorschrift hat eine lange Tradition an Taiwans Schulen. Alle Schüler tragen von der Grund- bis zum Abschluß der Oberschule Uniformen. In den Jahren des Kriegsrechts von 1949 bis 1987 mußten die Schüler außerdem strenge Frisurenregeln befolgen; die Jungen hatten Bürstenschnitte und die Haare der Mädchen durften nur bis zu den Ohrläppchen reichen. Einige Schulen gingen sogar so weit zu bestimmen, daß das Haar rechts gescheitelt werden mußte und Mädchen nur schwarze Haarspangen tragen durften. Heutzutage gibt es weniger Vorschriften, aber die meisten Schulen verlangen nach wie vor, daß die Jungen kurze, ordentliche Haarschnitte haben und die Mädchen ihre Haare nicht dauerwellen oder bis über die Schultern wachsen lassen.

Pädagogen wie Lin Ming-ching(林銘清), Direktor für disziplinarische Maßnahmen an der Tunhua-Mittelschule, sind der Meinung, daß einige Vorschriften nützlich seien. "Kleider- und Frisurvorschriften haben Vorteile", sagt Lin. "Die Kinder verbringen nicht zu viel Zeit mit Ausprobieren, was sie zur Schule anziehen und wie sie ihre Haare frisieren wollen. Außerdem werden sie sich nicht gegenseitig an ihrem materiellen Besitz messen. Sie werden keinen Zwang verspüren, Guess-Jeans oder eine DKNY-Jacke zu kaufen."

Lin ist der Meinung, daß die Schulen bereits ihre disziplinarischen Maßnahmen gelockert haben. "Wir versuchen zuerst zu verstehen, warum ein Schüler gegen eine Regel verstößt, ehe wir eine Strafe verhängen", sagt er. "Körperliche Züchtigung ist nicht erlaubt, auch wenn ich weiß, daß sie manchmal angewendet wird. Am häufigsten werden demütigende Strafen verhängt, d.h die Kinder müssen eine Weile 'in der Ecke stehen' oder saubermachen - nichts Drastisches." Aber Lin ist der Überzeugung, daß es für die Direktoren für disziplinarische Maßnahmen - ein traditioneller Posten an Grund-, Mittel- und Oberschulen - an der Zeit sei, die Hauptausrichtung ihrer Beschäftigung von Bestrafung auf Beratung zu verlagern.

Eine noch weit verbreitetere Kritik am Bildungswesen lautet, daß sämtliche in den Schulen verwendeten Lehrbücher veraltet seien. Die Schulen auf der ganzen Insel benutzen eine einzige standardisierte Schulbuchserie, um sicherzustellen, daß alle Schüler die gleiche Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung erhalten. Das Nationale Institut für Texterstellung und Übersetzung (National Institute of Compilation and Translation, NICT) ist seit den frühen 50er Jahren für die Erstellung aller Unterrichtsmaterialien an Grund- und Mittelschulen zuständig. Das Redaktionskomitee des Instituts entwickelt und verfaßt die Schulbücher entsprechend der vom Erziehungsministerium vorgegebenen Richtlinien.

Die Vorschriften wurden in den letzten Jahren etwas gelockert. Seit 1989 erlaubt das Erziehungsministerium den Mittelschulen, ihre Bücher aus einer Reihe genehmigter Unterrichtsmaterialien auszuwählen, allerdings nur für solche Fächer, die nicht Teil der Oberschulaufnahmeprüfung sind. Diese Möglichkeit wurde ab 1991 auch den Grundschulen eingeräumt. In allen anderen Fächern benutzen die Lehrer weiterhin die vom NICT entwickelten Unterlagen. Früher wurden die Bücher dafür kritisiert, daß sie beispielsweise Rollenklischees enthalten, wie in einem Grundschulbuchtext, in dem es heißt: "Jeden Tag, wenn ich aufstehe, macht die Mutter sauber, und der Vater liest die Zeitung", oder für falsche und unsensible Beschreibungen von Taiwans Ureinwohnern als "glückliche Menschen" oder Kopfjäger. Einige der anstößigen Textstellen wurden geändert, aber die Reformer beklagen immer noch, daß die Schulbücher veraltet seien. Die Materialien für die Grundschule wurden 1977, die für die Mittelstufe 1984 zuletzt überarbeitet. "Die Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren ziemlich stark verändert", sagt ein Geschichtslehrer der Mittelstufe. "Das Kriegsrecht ist aufgehoben. Ich finde, es ist an der Zeit, daß das Lehrmaterial aktualisiert wird."

Die Grundschuldirektorin Chang Su-chen(張素貞)gibt zu bedenken, daß eine einzige Serie von Schulbüchern nicht für alle Schüler geeignet sei. "Die Schüler sollten entsprechend ihrer Leistung unterrichtet werden", sagt sie. "Wenn ein Schüler gut in Mathematik ist, sollte er in einer Klasse sein, in der der Lehrer überdurchschnittliches Lehrmaterial verwendet." Sie schlägt vor, mindestens vier Serien von Schulbüchern zu entwickeln, die für Schüler mit unterschiedlichem Leistungsniveau in den verschiedenen Fächern geeignet sind.

Das Erziehungsministerium ist beim Angriff auf das Bildungswesen am meisten unter Beschuß genommen worden. Reformer sagen, daß das Ministerium unkooperativ und altmodisch sei; die Erziehungsbeamten erwidern, daß sie seit Jahren reformatorische Maßnahmen durchführten - allerdings mit Bedacht. "Das Erziehungsministerium hat kontinuierlich Reformen durchgeführt, aber keine im großen Rahmen", sagt Lin Lai-fa(林來發), Direktor der Abteilung für Grundschulerziehung in dem Regierungsamt. "Und darum haben die Leute sie nicht zur Kenntnis genommen." Lin fügt an, daß das Erziehungsministerium zu schnelleren Veränderungen bereit sei. "Unser Land befindet sich in einer Phase der Veränderung, und die Gesellschaft wird immer diversifizierter", sagt er. "Es ist ein guter Zeitpunkt, um unser Bildungswesen und unsere Traditionen zu überdenken."

Das Erziehungsministerium hat eine Reihe von Alternativen zur konkurrenzträchtigen Oberschulaufnahmeprüfung eingeführt. Von den 1990 in die 7. Klasse eingeschulten Jugendlichen wurden über 2600 ausgewählt, um an einem Selbstwahl-Schulprogramm teilzunehmen. Letztes Jahr beendeten diese Schüler die 9. Klasse (das letzte Pflichtschuljahr) und durften anhand ihrer Schulnoten Aufnahme an einer Ober-, Berufsfachschule oder einem Junior-College suchen. Von dieser ersten Gruppe gingen über fünfzig Prozent auf eine Berufsfachschule, rund dreißig Prozent auf eine Oberschule und zirka 16 Prozent auf ein Juniorcollege. Im letzten Sommer beendete eine weitere Gruppe von 6000 Schülern die 9. Klasse im Rahmen des Selbstwahlprogramms. Obwohl das Programm bei den Schülern sehr beliebt ist, hat es auch Kritik hervorgerufen, da es auf einem Bewertungssystem basiert, das von Lehrer zu Lehrer verschieden ist. Bis zur Überarbeitung im Jahr 1996, soll es nicht erweitert werden.

Eine zweite Alternative zur Aufnahmeprüfung bietet sich den Kindern auf der Insel Kinmen an. Die dortigen Schüler sind zwar nicht von der Aufnahmeprüfung befreit, aber ihre Leistungsbewertung wird nur zu einem kleinen Teil anhand des Testergebnisses ermittelt. Am wichtigsten sind die Schulnoten der Mittelstufe.

Das Erziehungsministerium hat außerdem Pläne zur Verkleinerung der Schulen und Klassen vorgelegt. 1993 schlug es ein Projekt vor, bei dem in zwei Phasen innerhalb von sechs Jahren alle Klassen bis 1996 auf maximal 45 und bis 1998 auf 40 Schüler reduziert werden sollten. Als Antwort auf die Rufe nach kleineren Schulen läßt das Ministerium neue Mittelschulen bauen. "Aber wir müssen Schritt für Schritt vorgehen", sagt Lin Lai-fa. "Es ist ein Problem, daß die Eltern mit allen Mitteln versuchen, ihre Kinder in die sogenannten 'Spitzenschulen' zu kriegen, obwohl sie nicht in der Gegend wohnen." Um dieser Praxis Herr zu werden, versucht das Erziehungsministerium, die unter einem schlechten Ruf leidenden Schulen aufzumöbeln, indem sie die Gebäude renovieren, die Wasserversorgung verbessern und die Ausstattungen erweitern. "Ich glaube, wenn die Einrichtungen verbessert werden, können diese Schulen mehr Schüler anziehen", sagt Lin.

Ende Juni sponserte das Erziehungsministerium die Siebte Nationale Erziehungskonferenz, eine großangelegte Veranstaltung, die in unregelmäßigen Abständen abgehalten wird, um den Stand und die Zukunft des Bildungswesens zu diskutieren. Rund 450 Teilnehmer waren diesmal dabei, darunter Akademiker, Pädagogen, Beamte des Ministeriums, private Bildungsorganisationen, Parlamentarier und Vertreter der Schülerschaft.

Zum Schluß der viertägigen Konferenz wurden einige Beschlüsse gefaßt. Das Erziehungsministerium stimmte zu, binnen weniger Jahre an den Grundschulen nicht staatlich erstelltes Lehrmaterial für alle Fächer zu erlauben, welches allerdings genehmigt werden muß. Das Ministerium versprach weiterhin, alternative Schulen, die andere Lehrpläne und -stile anwenden, zu legalisieren und diesbezügliche Gesetze zu erlassen. Es versprach auch, die Zahl der Oberschulen zu erhöhen, indem einige Mittelschulen um höhere Klassen und manche Junior-Colleges um Oberschulunterricht erweitert werden sollen.

Im Juli gründete der Exekutiv-Yüan ein Komitee für Bildungsfragen, um die Konferenzbeschlüsse innerhalb von zwei Jahren auszuführen. Die Gruppe, die aus ungefähr zwanzig Mitgliedern - darunter Akademiker, Unternehmer, Mitglieder privater Organisationen und Eltern, aber keine Vertreter des Erziehungsministeriums - wurde gegründet, um die Probleme aufzuzeigen und neue Lösungen vorzuschlagen.

Bedeuten diese Veränderungen, daß Eltern auf eine bessere Schulzeit für ihre Kinder hoffen dürfen? Chen Jui-feng glaubt daran. "Meine Erfahrungen in der Schule waren schrecklich", sagt er. "Damals mußten die Schüler einen Test mitmachen, um auf die Mittelschule gehen zu dürfen, und darum waren meine Grundschullehrer noch strenger als heute. Sie hatten alle möglichen Strafen für uns: Ich bekam Schläge, wurde in die Backe gekniffen oder mußte vor der Klasse knien. Ich möchte nicht, daß meine Kinder das durchmachen müssen. Manchmal überlege ich, in ein anderes Land auszuwandern oder viel Geld auszugeben, um meine Kinder auf eine ausländische oder alternative Schule zu schicken, aber ich versuche, die Hoffnung nicht aufzugeben."

Chen sagt, daß die neue Reformbewegung und die letztes Jahr stattgefundene Nationale Erziehungskonferenz seinen Glauben in das System bestärkt haben. "lch fühle, daß die Gesellschaft - sowohl der öffentliche als auch der private Bereich - sich darüber einig werden, daß wir eine Reform brauchen", sagt er. "Wenn die Öffentlichkeit sich dafür entscheidet, Veränderungen zu unterstützen, wird die Regierung Änderungen vornehmen müssen. Darum bin ich optimistisch, daß es besser werden wird."

(Deutsch von Jessika Steckenhorn)

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